STASIS EX STASIS
In “Metod” [Methode] (1932-1947) , einem seiner letzten Bücher, plädiert der Regisseur und Filmemacher Sergei Eisenstein für die Notwendigkeit „mit den Sinnen zu denken“. Diese Art des Denkens erfordert das geschickte Erfassen des Augenblicks, in dem eine Entität in einen neuen Zustand der Materie, in eine neue Lebens- oder Funktionsweise übergeht.1
“Stasis” beschreibt einen Zustand der Inaktivität, Verlangsamung oder des Eingefroren-Seins, etwa in der Medizin den Stillstand einer normalerweise bewegten Körperflüssigkeit oder in der Evolutionsforschung einen Zeitabschnitt der Ruhe, in dem eine Art weitestgehend in ihrer Form verweilt, ehe sie sich weiterentwickelt. Aus dem Science-Fiction-Genre kennt man sogenannte “Stasisfelder” oder “-kammern”. Dabei handelt es sich um künstliche Räume, in denen die Zeit angehalten oder der Inhalt bewegungslos gemacht wurde.
Eine ausgleichende Ruhe ist in einer Welt der Extreme selten geworden. Geopolitische Umwälzungen, Klimakrisen und rasante technologische Veränderungen verstärken ein Gefühl der Ohnmacht und Ratlosigkeit, das in der zeitgenössischen Kultur als allgegenwärtige Endzeitstimmung widergespiegelt wird. Der Begriff “Endcore” fängt das Gefühl ein, in einem ständigen Zustand der Krise und des Übergangs zu leben, in dem die traditionelle Fortschritts- und Stabilitätserzählung empfindlich gestört ist. Dieses Phänomen steht im Zusammenhang mit umfassenden kulturellen Veränderungen wie dem Aufkommen der Meme-Kultur und der Vermischung historischer Bezüge, wodurch eine chaotische Gegenwart entsteht, in der man sich immer schwerer zurechtfindet.2
Als Folge dieser Entwicklung ist eine gesteigerte gesamtgesellschaftliche Sehnsucht nach Ruhepolen auszumachen. Ausflüchte aus dem Alltag und der Realität sind jedoch keine erstmalige Ausprägung der Gegenwart, vielmehr entwickelte jede Zeit der Krisen ihre Coping-Strategien. Die Lebensumstände in industriellen Ballungsräumen befeuerten die Entstehung einer Kultur der Erholung und Ablenkung. Die unterschiedlichen Bedürfnisse verschiedener Gruppen bedingten die Entwicklung einer breiten Palette von “Luxusprodukten”, welche sich mittlerweile mehr und mehr auf erweiterte, individuelle Bedürfnisse verlagert. Zeit und Aufmerksamkeit scheinen dabei Materielles überholt zu haben.
Die Qualität der Stasis ist schwer zu fassen; ihre Ausbreitung ist eher exponentieller Natur und ihre Intensität eher tiefgreifend als sanft. Als hypothetischer Rückzugsort kann alles zu einem Stasisfeld werden. Willentlich angenommen, ist die Stasis keine Schockstarre und als “Ruhe vor dem Sturm“ verkörpert Stasis ein Potential, das es zu aktivieren, aber auch zu bändigen gilt. Das Aufbrechen des Stasisfelds, des stabilen, sicheren Zustands, ist gegensätzlicher, entfesselter, extatischer Natur. Wie jedes potentielle Wachstum und jede Veränderung, unabhängig davon, wie fern sie erscheinen mag, bereitet die Stasis in ihrem Innehalten insbesondere ihre Folgen vor. Der explosiven Ausbreitung wirken Wachstumsschmerzen entgegen, sodass die Entfesselung einer “Stasis Ex Stasis” als wankelmütige Kraft zu begreifen ist, die durch stabile Partikel zusammengehalten wird.
Eisensteins Gedanken folgend lässt sich annehmen, dass die Kunst Momente der Ekstase (ex-stasis) offenbart, wenn Wasser zu Dampf wird, Feuer zu Asche, und der Mensch sich in ein Tier verwandelt oder zu einem Häufchen Staub wird. Die Kunst selbst ist in der Lage, eine Kette von Verwandlungen auszulösen, und ihre Form ist nur ein flüchtiger Blick auf die Welt in der Evolution: die flüchtige Belebung des Unlebendigen, das Anlegen von Kostümen und Masken, die Zerstörung, die Fragmentierung und das Streben nach Einheit.3
1, 3 https://msl.org.pl/en/shapeshifting-eisenstein-method-0 Muzeum Sztuki w £odzi, “Shapeshifting: Eisenstein as Method” curated by Aleksandra Jach
2 https://flash---art.com/article/endcore/ “The Dawn of Endcore” by Shumon Basar
Prof. Pamela Rosenkranz
Mitarbeiterin: Tatjana Vall
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